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s L i b e r a l e T a g e b u c h
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Sammlung
Originaldokumente aus „Das Liberale
Tagebuch“, http://www.dr-trier.de |
Guido Westerwelle-Interview für die
„Weltwoche“ LT-Redaktion: Kondensat
und Kompendium liberaler Politik 2007 Roger Köppel: Was halten Sie von Bundeskanzlerin
Merkel? Guido Westerwelle: Sie ist eine eloquente, charmante Frau,
die Deutschland würdig im Ausland repräsentiert und der es immer wieder
gelingt, vergessen zu machen, dass die Regierungschefin sich aus dem
innenpolitischen Geschäft eigentlich nicht heraushalten dürfte. Roger Köppel: Würden Sie von Versagen sprechen? Guido Westerwelle: Die Bundeskanzlerin kennt mittlerweile
jeden roten Teppich in Europa und in der Welt. Das sei ihr von Herzen
gegönnt. Aber dass sie beispielsweise den Bundeswirtschaftsminister bei seinem
neuerlichen Anlauf für niedrigere, einfachere und gerechtere Steuern wie
Kevin allein zu Hause lässt, ist unpassend. Sie müsste stärker auch bei den
wesentlichen Fragen der deutschen Innenpolitik Flagge zeigen. Das tut sie
nicht. Roger Köppel: Frau Merkel hat einmal gesagt, eine
klare liberale Politik würde angesichts einer „linken strukturellen Mehrheit
in Deutschland“ in den Untergang führen. Guido Westerwelle: Sie sollte sich nicht so sehr um ein
paar dahingesagte Meinungen kümmern, sondern ihr Ziel müsste der Wohlstand
des Landes sein. Ich selbst bin Jahrgang 1961 und habe noch erlebt, wie
Deutschland in den achtziger Jahren wirtschaftlich an der Spitze der
Europäischen Union stand. Kürzlich kam die Meldung im Umlauf, dass wir unter
den alten 15 EU-Ländern beim Pro-Kopf-Einkommen noch auf Platz elf stehen.
Wenn das kein Alarmsignal ist. Roger Köppel: Hat Ihr persönliches Verhältnis zur
Kanzlerin durch die Kritik gelitten? Guido Westerwelle: Mein Verhältnis zu ihr ist unvermindert
herzlich. Und es gibt auch keinen Grund, das zu ändern. Dennoch sage ich, was
ich für notwendig halte. Ich befinde mich in allerbester Gesellschaft. Was
die FDP heute vertritt an marktwirtschaftlicher Erneuerung, ist ja bis zum
letzten Wahlkampf auch von der Union vertreten worden. Man hat allerdings
manchmal den Eindruck, das sei Jahrhunderte her. Roger Köppel: Sie sind ein mitleidloser Kritiker der
68er, ein marktwirtschaftlicher Mahner. Mal ganz generell: Deutschland hat
sich doch trotz allen Blockaden in den letzten Jahren eindeutig in die von
Ihnen gepredigte Richtung bewegt. Guido Westerwelle: Teilweise ja. Dass man heute niedrigere
Steuern vorschlagen kann, ohne von der Linken gleich gesteinigt zu werden,
ist ein Fortschritt für die Linke, aber noch kein ausreichender Fortschritt
für Deutschland. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog redet derzeit sehr
altersmilde über die neue Regierung. Eigentlich müsste er der Regierung eine
Standpauke halten, nähme er seine berühmte Ruckrede, die bald zehn Jahre alt
ist, ernst. Die mentale Standortfähigkeit Deutschlands hat sich eher
verschlechtert, trotz der Agenda 2010 von Ex-Kanzler Schröder. Man reagiert
mit Symbolik oder mit Problemverdrängung. In allen entscheidenden Bereichen
wurde das Falsche gemacht. Die Steuern wurden nicht gesenkt, sondern es gab
die massivste Steuererhöhung in der Geschichte der Republik. Der Arbeitsmarkt
ist bis heute nicht dereguliert, stattdessen redet man über Mindestlöhne. Das
Gesundheitssystem wurde nicht demografiefest gestaltet, sondern faktisch
wurde der Kassensozialismus eingeführt Die Bürokratie gedeiht –
beispielsweise in Gestalt des trotteligen allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes – weiter. Wenn ich nicht ein fröhlicher Rheinländer
wäre, müsste ich wegen der Regierungspolitik sehr traurig sein. Roger Köppel: Was sagt Ihnen Kanzlerin Merkel, wenn
Sie sie im Vertrauen solche Gardinenpredigten halten? Guido Westerwelle: Die Grundlage unseres
Vertrauensverhältnisses ist die gegenseitige Verschwiegenheit. Das werden wir
nicht ändern, nicht einmal für die Weltwoche. Roger Köppel: Lassen Sie uns kurz die wichtigsten
innenpolitischen Bewegungen in Deutschland Revue passieren. Es gab den Fall
um den nach Guantanamo verschleppten Deutschtürken Kurnaz. Was ist davon zu
halten? Guido Westerwelle: Manche haben gemeint, es ginge der
liberalen Opposition darum, ein paar abgetretene Minister zu ärgern. Das ist
nicht der Fall. Es geht um den Selbstschutz unseres Rechtssystems. Als
überzeugter Transatlantiker kann ich nur sagen: Wenn ein amerikanischer Staatsbürger durch einen deutschen
Geheimdienst entführt worden wäre, und das käme raus, dann gäbe es in
Washington eine parlamentarische Untersuchung nach der andern. Kein
US-Abgeordneter würde sagen: Wir sollten das stoppen, um die Europäer nicht zu
verärgern. Soviel Selbstbewusstsein sollten wir auch haben. Roger Köppel: Was ist falsch gelaufen? Guido Westerwelle: Da hat eine ausländische Macht, mit der
wir partnerschaftlich befreundet sind, gegen die Menschenrechte und gegen den
Rechtsstaat Bürger aus Europa entführt, gefoltert, verschleppt, misshandelt,
und unsere deutsche Regierung hat über Jahre nichts dagegen unternommen. Das
kann man doch nicht unter den Teppich kehren. Roger Köppel: Ist Aussenminister Steinmeier ein
Vorwurf zu machen? Guido Westerwelle: Ein Vorwurf ist ihm in jedem Fall zu
machen. Warum hat er als Kanzleramtschef der Regierung Schröder nie etwas
gegen die Verschleppung getan? Und weshalb änderte er als Aussenminister
unter Angela Merkel seine Haltung? Das sind Widersprüche, die er bis heute
nicht aufklären konnte. Roger Köppel: Die Amerikaner ertragen Kritik aus
Deutschland schlecht. Hat man Sie das spüren lassen? Guido Westerwelle: Das eine oder andere habe ich zu hören
bekommen. Und ich registriere natürlich, dass die Vertreter der Supermacht
bei ihren Berlin-Besuchen das Gespräch mit der grössten Oppositionspartei
ausdrücklich nicht suchen. Aber das kann ich verschmerzen. Es gibt ein Leben
nach der Bush-Regierung. Roger Köppel: Vor drei Jahren gab es in Deutschland
die skurrile Heuschrecken Debatte gegen Hedge-Fonds und
Private-Equity-Gesellschaften. Wie hat sich das Klima weiterentwickelt? Guido Westerwelle: Diese sogenannte Debatte ist ein
trauriges Beispiel dafür, dass wir mental noch nicht auf dem Wege der
Gesundung sind. Natürlich gibt es berechtigte Kritik an Vorgängen in der
Marktwirtschaft. Ich persönlich kann es nicht akzeptieren, wenn ein
Vorstandsmitglied die eigenen Gehälter maßlos erhöht und gleichzeitig
tausende Entlassungen ausspricht. Das ist unmoralisch. Die
Heuschreckendebatte wandte sich aber mit fast ausländerfeindlichen Reflexen
gegen internationale Investoren. So traurig das ist, so erfreulich ist es
andererseits, dass sich damit keine Wahlen gewinnen liessen. Roger Köppel: Gab es nachhaltige Effekte? Guido Westerwelle: Die Vorbehalte gegen Investoren haben
sich vergrössert. Der denkende Teil in Deutschland weiss aber, dass diese
Investorengruppen von überragender Bedeutung für den Wohlstand sind. Roger Köppel: Stehen wir eigentlich vor einer
Klimakatastrophe, wie uns nicht nur grüne Politiker darlegen? Guido Westerwelle: Der Umweltschutz muss sehr ernst
genommen werden, aber die Grünen sind die Totengräber des Klimas. Es gibt
keine andere Partei, die sich so sehr an der Umwelt versündigt wie die
Grünen. Roger Köppel: Wie meinen Sie denn das? Guido Westerwelle: Es ist doch absurd, den Klimawandel nur
mit einigen Windgeneratoren in den Griff kriegen zu wollen. Notwendig wäre
es, die Kernkraft nicht abzuschaffen. Die deutsche nukleare
Spitzentechnologie sollte gefördert und ins Ausland verkauft werden. Dass in
Deutschland in den nächsten Jahren zwischen 20 und 45 Kohlekraftwerke gebaut
werden sollen, weil man Kernkraftwerke abstellt, verdanken wir den Grünen.
Bedauerlicherweise hat die Regierung Merkel nicht die Kraft, dagegen etwas zu
unternehmen. Weltweit sind 160 Kernkraftwerke in Planung. Diesen Vorhaben
könnte unsere Technologie von grösstem Nutzen sein. Stattdessen schaffen wir
eine ganze Branche in Deutschland ab. Roger Köppel: Ist die Klimaproblematik wirklich eine
grosse politische Priorität oder nicht doch auch Realitätsflucht von
Politikern wie der deutschen Kanzlerin, die zu Hause keine rechte
Gesundheitsreform zustande bringt und deshalb ins Globale flüchtet? Guido Westerwelle: Es ist von beidem etwas. Es ist auch
eine willkommene Ablenkung von der notwendigen harten Innenpolitik. Ausserdem
kann unsere Regierung in internationalen Gremien durch die Klimadebatte die
weit gefährlichere Frage der amerikanischen Raketenstationierung in Mittel-
und Osteuropa von der Agenda verdrängen. Gleichzeitig erleben wir eine
Hysterie der Symbolik, wenn Politiker strahlend erklären, sie hätten zu Hause
ein paar Energiesparlampen eingebaut. Ich fürchte, die ersten zehn Jahre
dieses Jahrtausends werden als ein Dezennium der Dekadenz in die europäische Geschichte
eingehen. Wir lassen uns mit Symbolik und Quatsch von den wichtigen Themen
ablenken. Wohlstandssicherung bleibt das zentrale Thema. Roger Köppel: Spricht hier der verbitterte
Oppositionsführer, der einem gewaltigen politischen Koalitionskartell gegenübersteht? Guido Westerwelle: Persönliche Bitterkeit habe ich nicht.
Dafür ist der Zulauf zu meiner Partei zu gross. Ich merke ja: Was ich hier
sage, wird von einem wachsenden Teil in Deutschland auch so empfunden. Dass
Persönlichkeiten wie Friedrich Merz aus der Politik ausscheiden, weil sie
diese Gehirnwäsche der Union nicht mittragen wollen, ist Wasser auf unsere
Mühlen. Roger Köppel: Es spricht auch nicht gerade für Merz,
dass er abspringt. Guido Westerwelle: Vielleicht kann sich Friedrich Merz
nicht mit der felsenfesten Überzeugung trösten, die mich beflügelt: Ich werde
meine Partei in die Regierung führen, und zwar nach der nächsten
Bundestagswahl. Keinen Tag später. Das ist die Motivation in Zeiten eines
Machtkartells der sogenannten grossen Koalition bis weit in die Medien und in
die Verbände hinein. Diesen Politikwechsel braucht das Land. Sonst wird
Deutschland nur noch als pittoreskes Museum von Touristenströmen besucht. Roger Köppel: Noch ein Wort zum deutschen
Medienmainstream: Erkennen Sie erfreuliche Tendenzen? Guido Westerwelle: Sehr unterschiedlich. Ein Teil der
Medien wartet nur darauf, dass er den eigenen Regierungsparteien wieder
Beifall geben darf. Es war ja schlimm für einige, dass sie ihre
Lieblingspartei kritisieren mussten, wenn sie sich nicht als Journalisten
abmelden wollten. Ein anderer Teil meint, genau so wie
die Regierung, dass bei anhaltender Konjunktur keine Strukturänderungen nötig
seien. Ein grösserer Teil allerdings ist genauso besorgt wie die FDP. Roger Köppel: Interessanterweise ist der „Spiegel“ von
einer verlegerisch-redaktionellen Identitätskrise befallen worden, als
Chefredakteur Aust die rotgrüne Regierung etwas schärfer kritisieren liess
vor den letzten Wahlen. Der Chef wurde zurückgepfiffen von Teilen der
Redaktion, aber auch von den millionenschweren Erben des Magazingründers, die
offenkundig rotgrüne Sympathien hegen. Guido Westerwelle: Ich bin heute noch beeindruckt, dass
sich Stefan Aust – und der Spiegel hat mich wiederholt in die Pfanne gehauen,
wie es sich auch gehört – nicht hat irritieren lassen. Mich befremden
Journalisten, die sich nur noch als Beifallsgeber von Regierungsparteien
ansehen. Roger Köppel: Die derzeit wichtigste aussenpolitische
Frage betrifft den Iran, eine Nation, die sich zwischen Imponiergehabe,
Säbelrasseln und scheinbarer Kompromissbereitschaft an die Atombombe
herantastet. Wie muss mit diesem Regime verfahren werden? Guido Westerwelle: So, wie es gegenwärtig die Europäische
Union tut. Es gibt hier eine überwiegende Geschlossenheit der europäischen
Aussenpolitik: Durch Dialog und Einwirken, und sei es bis zur Erschöpfung,
soll verhindert werden, dass der Iran auch nur theoretisch in den Besitz von
Atomwaffen kommen kann. Anderseits will man andere Nationen von Invasionsgedanken
abbringen. Roger Köppel: Wenn es nicht gelingt, die Bombe zu
verhindern, was dann? Guido Westerwelle: Von unserem früheren Aussenminister
Hans-Dietrich Genscher habe ich eine Lektion schon früh gelernt. In der
Aussenpolitik beantwortet man Fragen nicht dann, wenn sie einem gestellt
werden, sondern dann, wenn sie sich stellen. Es gibt Szenarien, aber man
sollte sie in einem Interview nicht ausbreiten. Roger Köppel: Kanzlerin Merkel schliesst die
militärische Option nicht aus mit der an sich vernünftigen Begründung, wer
die militärische Option ausschliesse, schwäche die eigene Verhandlungsposition. Guido Westerwelle: Es gibt keine militärische Option. Wenn
es sie nicht gibt, darf man mit ihr auch nicht drohen. Wer sie auf den Tisch
legt, muss sie im Zweifelsfall anwenden. Die Situation ist so fragil, so
schwierig, dass man seine Worte mit Bedacht wählen sollte. Ich hoffe, dass
die Freilassung der britischen Geiseln ein Gesprächssignal der iranischen
Regierung ist. Roger Köppel: Heftig bestritten wird die Frage eines
amerikanischen Abwehrraketenschutzschirms in Europa. Wenn man zurückblendet:
US-Präsident Reagan hatte die Idee als erster konzipiert und dadurch die
Sowjetunion, gemäss jüngsten Darstellungen zum Ende des Kalten Krieges,
derart unter Druck gesetzt, dass die Konfrontationspolitik in eine
Kooperationspolitik übergehen konnte. Weshalb heute die Widerstände gegen das
amerikanische Vorhaben? Guido Westerwelle: Diese Einschätzung lässt die klare
Haltung Russlands ausser Betracht. Wie würde sich Amerika fühlen, wenn Moskau
ohne Einigung mit Washington Abwehrraketen wenige Kilometer ausserhalb der
amerikanischen Grenzen stationierte? Zweitens: Diese Frage ist keine
bilaterale Angelegenheit von Polen und Tschechien einerseits und den USA
andererseits, sondern eine europäische. Wir können kein Interesse an einer
Spaltung der europäischen Aussenpolitik haben. Und wir dürfen erst Recht
nicht die Gefahr einer neuerlichen Rüstungsspirale zulassen. Die Äusserungen
des russischen Präsidenten Putin sind eindeutig. Er hat klar angekündigt:
Wenn diese Raketen stationiert werden, werde ich entsprechend antworten.
Damit sind wir in der Rhetorik der Aufrüstung. Roger Köppel: Man wirft Ihnen einen Bruch mit der
aussenpolitischen Tradition Ihrer Partei vor. Guido Westerwelle: Das ist grober Unfug. Mein Parteifreund
Hans-Dietrich Genscher, der die deutsche Aussenpolitik über zwei Jahrzehnte
zum Wohle Deutschlands und Europas führte, hat identisch argumentiert. Ich
nehme übrigens zur Kenntnis, dass meine Skepsis auch vom deutschen
Aussenminister geteilt wird. Wenn der neue tschechische Aussenminister bei
der Münchner Sicherheitskonferenz erklärt, die Sowjetunion gebe es nicht mehr
und Tschechien sei ein souveräner Staat, dann ist das nicht die gemeinsame
europäische Aussenpolitik, die wir meinen. Roger Köppel: Was sollen die Amerikaner tun? Guido Westerwelle: Die Amerikaner sollten den
Unilateralismus endlich beenden. Nehmen Sie den Irak-Krieg: Nationale
Alleingänge können Kriege gewinnen, aber keinen Frieden schaffen. Bei allen
ernstzunehmenden Motiven, die hinter dem Irakfeldzug stecken: Die ganze Operation
war nicht zielführend. Roger Köppel: Hat sich das relative Gewicht der USA
verringert? Guido Westerwelle: Das Gewicht nicht, aber das Ansehen. Vor
allem in der arabischen Welt, aber ausdrücklich nicht nur in der arabischen
Welt. Ich bin seit meiner Studentenzeit ein begeisterter Transatlantiker, ich
habe amerikanischer Freunde, liebe die amerikanische Kunst, mag die Vielfalt
in den Vereinigten Staaten, aber ich habe mich noch nie einer amerikanischen
Regierung so fern gefühlt. Das kann nicht nur an mir liegen. Roger Köppel: Umgekehrt gewinnt Deutschland an
Bedeutung als Mittelmacht in Europa. Die betonharten Bündnisse des Kalten
Kriegs weichen sich auf, eine neue Flexibilität wird möglich. Was müssen in
Ihren Augen die aussenpolitischen Prinzipien Deutschlands sein? Guido Westerwelle: Seit Mitte der neunziger Jahre ist
Deutschland kein Akteur, sondern ein Reakteur der Aussenpolitik. Zum Teil
hervorragend: Glücklicherweise haben wir das Meiste richtig gemacht. Wir
haben humanistische Werte exportiert, haben ein hohes Ansehen auch in
Problemregionen der Welt. Aber deutsche Interessen haben wir bis heute nicht
definiert, auch keine deutschen Interessen im Rahmen der europäischen
Politik. Roger Köppel: Deutschland entdeckt sich wieder als
Subjekt. Guido Westerwelle: Ja. Diese Phase steht jetzt vor uns. Roger Köppel: Es wird wohl nicht mehr reichen, dass
sich Deutschland einfach als moralische Anstalt definiert. Guido Westerwelle: Selbstverständlich sind wir für Frieden,
Freiheit und Menschenrechte in der Welt. Darüber hinaus werden wir unsere
ökonomischen Interessen definieren müssen. Interessen des Technologieexports.
Man muss hinzufügen: Rohstoffinteressen. Es ist falsch, dass die deutsche
Aussenpolitik den südamerikanischen Kontinent so sträflich vernachlässigt.
Die Welt schliesst sich zusammen. Es entstehen riesige, junge aufstrebende
Regionen, auch in Südamerika. Diese jungen Gesellschaften werden Zentren der
Welt werden wollen. Roger Köppel: Sie sagen: Die beste Aussenpolitik ist
eine hervorragende Innenpolitik, die den Standort so attraktiv macht, dass
alle nach Deutschland kommen wollen und nicht jährlich 24000 hoch
qualifizierte Deutsche in die Schweiz auswandern. Guido Westerwelle: Insgesamt sind 150000 Deutsche im
letzten Jahr ausgewandert. Das ist der absolute Rekord seit dem Zweiten
Weltkrieg. Nicht nur Kapital geht verloren, es gehen Wohlstandschancen weg.
Man kann lange über Aussenpolitik reden, aber zu Hause beginnt´s. Es führt
kein roter Teppich an der Innenpolitik vorbei. Roger Köppel: Russlands Präsident Putin wird derzeit
heftig kritisiert. Wie muss sich Deutschland gegenüber den Russen, mit denen
man über jahrhundertealte Beziehungen verbunden ist, verhalten? Guido Westerwelle: Fair und entschieden. Fair: Wir müssen
die Bedenken der Russen gegenüber den Raketenstationierungen ernst nehmen.
Entschieden: Wir sollten die innenpolitische Entwicklung gut beobachten. Über
die Mängel bei der Presse- und Versammlungsfreiheit sollten wir nicht
schweigen. Roger Köppel: Ist Bismarcks hoch subtiles Bündnisnetz
mit einem starken Deutschland inmitten Europas für Sie in irgendeiner Form
inspirierend? Guido Westerwelle: Für mich sind die besten Ratgeber immer
noch Persönlichkeiten wie Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff,
Walter Scheel, Klaus Kinkel. Es gibt von Stefan Zweig das wunderbare Buch
„Castellio gegen Calvin“, das ich hoffentlich auch in Zürich zitieren darf.
Er schreibt dort: Geschichte ist wie Ebbe und Flut. Niemals ist die Freiheit
endgültig erkämpft gegen die immer wiederkehrende Tyrannei der Unfreiheit.
Die Unfreiheit kommt meistens gut getarnt. Wir sind eben nicht am Ende der
Geschichte, sondern wir sind mittendrin. Das mag sich aus Sicht der neutralen
Schweiz etwas pathetisch anhören, weil naturgemäss die Distanz zu den Dingen
grösser ist. Wenn Sie aber einen Arbeitsplatz haben, der 30 Meter von der
ehemaligen Berliner Mauer entfernt ist, wenn Sie in einer Stadt Politik
machen dürfen, die eine Stunde entfernt ist von Polen und vielleicht drei
Stunden von Prag: Dann werden Fragen wie die Raketenstationierung geradezu
fühlbar. Roger Köppel: Die Schweiz spürt keine Raketen, aber
doch den Druck auf unsere Steuersysteme auch aus Deutschland. Guido Westerwelle: Ach, der frühere Finanzminister Eichel
hat ebenso wie der jetzige Amtsinhaber darüber geklagt, dass andere Länder
ihre Steuervorteile nützen. Der österreichische Finanzminister Grasser zeigte
mit seinem neuen Steuersystem, wie attraktiv es für deutsche Unternehmen ist,
nach Österreich zu gehen. Es ist zuwenig, wenn dem deutschen Finanzminister
zum Steuerwettbewerb nur einfällt: Das ist aber gemein. Er könnte sich auch
inspirieren lassen. |