D a s   L i b e r a l e   T a g e b u c h

Sammlung Originaldokumente aus „Das Liberale Tagebuch“, http://www.dr-trier.de

 

 

 

 

 

Guido Westerwelle-Interview für die „Weltwoche“

19. April.2007.

 

 

LT-Redaktion: Kondensat und Kompendium liberaler Politik 2007

 

 

Roger Köppel: Was halten Sie von Bundeskanzlerin Merkel?

 

Guido Westerwelle: Sie ist eine eloquente, charmante Frau, die Deutschland würdig im Ausland repräsentiert und der es immer wieder gelingt, vergessen zu machen, dass die Regierungschefin sich aus dem innenpolitischen Geschäft eigentlich nicht heraushalten dürfte.

 

Roger Köppel: Würden Sie von Versagen sprechen?

 

Guido Westerwelle: Die Bundeskanzlerin kennt mittlerweile jeden roten Teppich in Europa und in der Welt. Das sei ihr von Herzen gegönnt. Aber dass sie beispielsweise den Bundeswirtschaftsminister bei seinem neuerlichen Anlauf für niedrigere, einfachere und gerechtere Steuern wie Kevin allein zu Hause lässt, ist unpassend. Sie müsste stärker auch bei den wesentlichen Fragen der deutschen Innenpolitik Flagge zeigen. Das tut sie nicht.

 

Roger Köppel: Frau Merkel hat einmal gesagt, eine klare liberale Politik würde angesichts einer „linken strukturellen Mehrheit in Deutschland“ in den Untergang führen.

 

Guido Westerwelle: Sie sollte sich nicht so sehr um ein paar dahingesagte Meinungen kümmern, sondern ihr Ziel müsste der Wohlstand des Landes sein. Ich selbst bin Jahrgang 1961 und habe noch erlebt, wie Deutschland in den achtziger Jahren wirtschaftlich an der Spitze der Europäischen Union stand. Kürzlich kam die Meldung im Umlauf, dass wir unter den alten 15 EU-Ländern beim Pro-Kopf-Einkommen noch auf Platz elf stehen. Wenn das kein Alarmsignal ist.

 

Roger Köppel: Hat Ihr persönliches Verhältnis zur Kanzlerin durch die Kritik gelitten?

 

Guido Westerwelle: Mein Verhältnis zu ihr ist unvermindert herzlich. Und es gibt auch keinen Grund, das zu ändern. Dennoch sage ich, was ich für notwendig halte. Ich befinde mich in allerbester Gesellschaft. Was die FDP heute vertritt an marktwirtschaftlicher Erneuerung, ist ja bis zum letzten Wahlkampf auch von der Union vertreten worden. Man hat allerdings manchmal den Eindruck, das sei Jahrhunderte her.

 

Roger Köppel: Sie sind ein mitleidloser Kritiker der 68er, ein marktwirtschaftlicher Mahner. Mal ganz generell: Deutschland hat sich doch trotz allen Blockaden in den letzten Jahren eindeutig in die von Ihnen gepredigte Richtung bewegt.

 

Guido Westerwelle: Teilweise ja. Dass man heute niedrigere Steuern vorschlagen kann, ohne von der Linken gleich gesteinigt zu werden, ist ein Fortschritt für die Linke, aber noch kein ausreichender Fortschritt für Deutschland. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog redet derzeit sehr altersmilde über die neue Regierung. Eigentlich müsste er der Regierung eine Standpauke halten, nähme er seine berühmte Ruckrede, die bald zehn Jahre alt ist, ernst. Die mentale Standortfähigkeit Deutschlands hat sich eher verschlechtert, trotz der Agenda 2010 von Ex-Kanzler Schröder. Man reagiert mit Symbolik oder mit Problemverdrängung. In allen entscheidenden Bereichen wurde das Falsche gemacht. Die Steuern wurden nicht gesenkt, sondern es gab die massivste Steuererhöhung in der Geschichte der Republik. Der Arbeitsmarkt ist bis heute nicht dereguliert, stattdessen redet man über Mindestlöhne. Das Gesundheitssystem wurde nicht demografiefest gestaltet, sondern faktisch wurde der Kassensozialismus eingeführt Die Bürokratie gedeiht – beispielsweise in Gestalt des trotteligen allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes – weiter. Wenn ich nicht ein fröhlicher Rheinländer wäre, müsste ich wegen der Regierungspolitik sehr traurig sein.

 

Roger Köppel: Was sagt Ihnen Kanzlerin Merkel, wenn Sie sie im Vertrauen solche Gardinenpredigten halten?

 

Guido Westerwelle: Die Grundlage unseres Vertrauensverhältnisses ist die gegenseitige Verschwiegenheit. Das werden wir nicht ändern, nicht einmal für die Weltwoche.

 

Roger Köppel: Lassen Sie uns kurz die wichtigsten innenpolitischen Bewegungen in Deutschland Revue passieren. Es gab den Fall um den nach Guantanamo verschleppten Deutschtürken Kurnaz. Was ist davon zu halten?

 

Guido Westerwelle: Manche haben gemeint, es ginge der liberalen Opposition darum, ein paar abgetretene Minister zu ärgern. Das ist nicht der Fall. Es geht um den Selbstschutz unseres Rechtssystems. Als überzeugter Transatlantiker kann ich nur sagen: Wenn ein

amerikanischer Staatsbürger durch einen deutschen Geheimdienst entführt worden wäre, und das käme raus, dann gäbe es in Washington eine parlamentarische Untersuchung nach der andern. Kein US-Abgeordneter würde sagen: Wir sollten das stoppen, um die Europäer nicht zu verärgern. Soviel Selbstbewusstsein sollten wir auch haben.

 

Roger Köppel: Was ist falsch gelaufen?

 

Guido Westerwelle: Da hat eine ausländische Macht, mit der wir partnerschaftlich befreundet sind, gegen die Menschenrechte und gegen den Rechtsstaat Bürger aus Europa entführt, gefoltert, verschleppt, misshandelt, und unsere deutsche Regierung hat über Jahre nichts dagegen unternommen. Das kann man doch nicht unter den Teppich kehren.

 

Roger Köppel: Ist Aussenminister Steinmeier ein Vorwurf zu machen?

 

Guido Westerwelle: Ein Vorwurf ist ihm in jedem Fall zu machen. Warum hat er als Kanzleramtschef der Regierung Schröder nie etwas gegen die Verschleppung getan? Und weshalb änderte er als Aussenminister unter Angela Merkel seine Haltung? Das sind Widersprüche, die er bis heute nicht aufklären konnte.

 

Roger Köppel: Die Amerikaner ertragen Kritik aus Deutschland schlecht. Hat man Sie das spüren lassen?

 

Guido Westerwelle: Das eine oder andere habe ich zu hören bekommen. Und ich registriere natürlich, dass die Vertreter der Supermacht bei ihren Berlin-Besuchen das Gespräch mit der grössten Oppositionspartei ausdrücklich nicht suchen. Aber das kann ich verschmerzen. Es gibt ein Leben nach der Bush-Regierung.

 

Roger Köppel: Vor drei Jahren gab es in Deutschland die skurrile Heuschrecken Debatte gegen Hedge-Fonds und Private-Equity-Gesellschaften. Wie hat sich das Klima weiterentwickelt?

 

Guido Westerwelle: Diese sogenannte Debatte ist ein trauriges Beispiel dafür, dass wir mental noch nicht auf dem Wege der Gesundung sind. Natürlich gibt es berechtigte Kritik an Vorgängen in der Marktwirtschaft. Ich persönlich kann es nicht akzeptieren, wenn ein Vorstandsmitglied die eigenen Gehälter maßlos erhöht und gleichzeitig tausende Entlassungen ausspricht. Das ist unmoralisch. Die Heuschreckendebatte wandte sich aber mit fast ausländerfeindlichen Reflexen gegen internationale Investoren. So traurig das ist, so erfreulich ist es andererseits, dass sich damit keine Wahlen gewinnen liessen.

 

Roger Köppel: Gab es nachhaltige Effekte?

 

Guido Westerwelle: Die Vorbehalte gegen Investoren haben sich vergrössert. Der denkende Teil in Deutschland weiss aber, dass diese Investorengruppen von überragender Bedeutung für den Wohlstand sind.

 

Roger Köppel: Stehen wir eigentlich vor einer Klimakatastrophe, wie uns nicht nur grüne Politiker darlegen?

 

Guido Westerwelle: Der Umweltschutz muss sehr ernst genommen werden, aber die Grünen sind die Totengräber des Klimas. Es gibt keine andere Partei, die sich so sehr an der Umwelt versündigt wie die Grünen.

 

Roger Köppel: Wie meinen Sie denn das?

 

Guido Westerwelle: Es ist doch absurd, den Klimawandel nur mit einigen Windgeneratoren in den Griff kriegen zu wollen. Notwendig wäre es, die Kernkraft nicht abzuschaffen. Die deutsche nukleare Spitzentechnologie sollte gefördert und ins Ausland verkauft werden. Dass in Deutschland in den nächsten Jahren zwischen 20 und 45 Kohlekraftwerke gebaut werden sollen, weil man Kernkraftwerke abstellt, verdanken wir den Grünen. Bedauerlicherweise hat die Regierung Merkel nicht die Kraft, dagegen etwas zu unternehmen. Weltweit sind 160 Kernkraftwerke in Planung. Diesen Vorhaben könnte unsere Technologie von grösstem Nutzen sein. Stattdessen schaffen wir eine ganze Branche in Deutschland ab.

 

Roger Köppel: Ist die Klimaproblematik wirklich eine grosse politische Priorität oder nicht doch auch Realitätsflucht von Politikern wie der deutschen Kanzlerin, die zu Hause keine rechte Gesundheitsreform zustande bringt und deshalb ins Globale flüchtet?

Guido Westerwelle: Es ist von beidem etwas. Es ist auch eine willkommene Ablenkung von der notwendigen harten Innenpolitik. Ausserdem kann unsere Regierung in internationalen Gremien durch die Klimadebatte die weit gefährlichere Frage der amerikanischen Raketenstationierung in Mittel- und Osteuropa von der Agenda verdrängen. Gleichzeitig erleben wir eine Hysterie der Symbolik, wenn Politiker strahlend erklären, sie hätten zu Hause ein paar Energiesparlampen eingebaut. Ich fürchte, die ersten zehn Jahre dieses Jahrtausends werden als ein Dezennium der Dekadenz in die europäische Geschichte eingehen. Wir lassen uns mit Symbolik und Quatsch von den wichtigen Themen ablenken. Wohlstandssicherung bleibt das zentrale Thema.

 

Roger Köppel: Spricht hier der verbitterte Oppositionsführer, der einem gewaltigen politischen Koalitionskartell gegenübersteht?

 

Guido Westerwelle: Persönliche Bitterkeit habe ich nicht. Dafür ist der Zulauf zu meiner Partei zu gross. Ich merke ja: Was ich hier sage, wird von einem wachsenden Teil in Deutschland auch so empfunden. Dass Persönlichkeiten wie Friedrich Merz aus der Politik ausscheiden, weil sie diese Gehirnwäsche der Union nicht mittragen wollen, ist Wasser auf unsere Mühlen.

 

Roger Köppel: Es spricht auch nicht gerade für Merz, dass er abspringt.

 

Guido Westerwelle: Vielleicht kann sich Friedrich Merz nicht mit der felsenfesten Überzeugung trösten, die mich beflügelt: Ich werde meine Partei in die Regierung führen, und zwar nach der nächsten Bundestagswahl. Keinen Tag später. Das ist die Motivation in Zeiten eines Machtkartells der sogenannten grossen Koalition bis weit in die Medien und in die Verbände hinein. Diesen Politikwechsel braucht das Land. Sonst wird Deutschland nur noch als pittoreskes Museum von Touristenströmen besucht.

 

Roger Köppel: Noch ein Wort zum deutschen Medienmainstream: Erkennen Sie erfreuliche Tendenzen?

 

Guido Westerwelle: Sehr unterschiedlich. Ein Teil der Medien wartet nur darauf, dass er den eigenen Regierungsparteien wieder Beifall geben darf. Es war ja schlimm für einige, dass sie ihre Lieblingspartei kritisieren mussten, wenn sie sich nicht als Journalisten abmelden

 

wollten. Ein anderer Teil meint, genau so wie die Regierung, dass bei anhaltender Konjunktur keine Strukturänderungen nötig seien. Ein grösserer Teil allerdings ist genauso besorgt wie die FDP.

 

Roger Köppel: Interessanterweise ist der „Spiegel“ von einer verlegerisch-redaktionellen Identitätskrise befallen worden, als Chefredakteur Aust die rotgrüne Regierung etwas schärfer kritisieren liess vor den letzten Wahlen. Der Chef wurde zurückgepfiffen von Teilen der Redaktion, aber auch von den millionenschweren Erben des Magazingründers, die offenkundig rotgrüne Sympathien hegen.

 

Guido Westerwelle: Ich bin heute noch beeindruckt, dass sich Stefan Aust – und der Spiegel hat mich wiederholt in die Pfanne gehauen, wie es sich auch gehört – nicht hat irritieren lassen. Mich befremden Journalisten, die sich nur noch als Beifallsgeber von Regierungsparteien ansehen.

 

Roger Köppel: Die derzeit wichtigste aussenpolitische Frage betrifft den Iran, eine Nation, die sich zwischen Imponiergehabe, Säbelrasseln und scheinbarer Kompromissbereitschaft an die Atombombe herantastet. Wie muss mit diesem Regime verfahren werden?

 

Guido Westerwelle: So, wie es gegenwärtig die Europäische Union tut. Es gibt hier eine überwiegende Geschlossenheit der europäischen Aussenpolitik: Durch Dialog und Einwirken, und sei es bis zur Erschöpfung, soll verhindert werden, dass der Iran auch nur theoretisch in den Besitz von Atomwaffen kommen kann. Anderseits will man andere Nationen von Invasionsgedanken abbringen.

 

Roger Köppel: Wenn es nicht gelingt, die Bombe zu verhindern, was dann?

 

Guido Westerwelle: Von unserem früheren Aussenminister Hans-Dietrich Genscher habe ich eine Lektion schon früh gelernt. In der Aussenpolitik beantwortet man Fragen nicht dann, wenn sie einem gestellt werden, sondern dann, wenn sie sich stellen. Es gibt Szenarien, aber man sollte sie in einem Interview nicht ausbreiten.

 

Roger Köppel: Kanzlerin Merkel schliesst die militärische Option nicht aus mit der an sich vernünftigen Begründung, wer die militärische Option ausschliesse, schwäche die eigene Verhandlungsposition.

 

Guido Westerwelle: Es gibt keine militärische Option. Wenn es sie nicht gibt, darf man mit ihr auch nicht drohen. Wer sie auf den Tisch legt, muss sie im Zweifelsfall anwenden. Die Situation ist so fragil, so schwierig, dass man seine Worte mit Bedacht wählen sollte. Ich hoffe, dass die Freilassung der britischen Geiseln ein Gesprächssignal der iranischen Regierung ist.

 

Roger Köppel: Heftig bestritten wird die Frage eines amerikanischen Abwehrraketenschutzschirms in Europa. Wenn man zurückblendet: US-Präsident Reagan hatte die Idee als erster konzipiert und dadurch die Sowjetunion, gemäss jüngsten Darstellungen zum Ende des Kalten Krieges, derart unter Druck gesetzt, dass die Konfrontationspolitik in eine Kooperationspolitik übergehen konnte. Weshalb heute die Widerstände gegen das amerikanische Vorhaben?

 

Guido Westerwelle: Diese Einschätzung lässt die klare Haltung Russlands ausser Betracht. Wie würde sich Amerika fühlen, wenn Moskau ohne Einigung mit Washington Abwehrraketen wenige Kilometer ausserhalb der amerikanischen Grenzen stationierte? Zweitens: Diese Frage ist keine bilaterale Angelegenheit von Polen und Tschechien einerseits und den USA andererseits, sondern eine europäische. Wir können kein Interesse an einer Spaltung der europäischen Aussenpolitik haben. Und wir dürfen erst Recht nicht die Gefahr einer neuerlichen Rüstungsspirale zulassen. Die Äusserungen des russischen Präsidenten Putin sind eindeutig. Er hat klar angekündigt: Wenn diese Raketen stationiert werden, werde ich entsprechend antworten. Damit sind wir in der Rhetorik der Aufrüstung.

 

Roger Köppel: Man wirft Ihnen einen Bruch mit der aussenpolitischen Tradition Ihrer Partei vor.

 

Guido Westerwelle: Das ist grober Unfug. Mein Parteifreund Hans-Dietrich Genscher, der die deutsche Aussenpolitik über zwei Jahrzehnte zum Wohle Deutschlands und Europas führte, hat identisch argumentiert. Ich nehme übrigens zur Kenntnis, dass meine Skepsis auch vom deutschen Aussenminister geteilt wird. Wenn der neue tschechische Aussenminister bei der Münchner Sicherheitskonferenz erklärt, die Sowjetunion gebe es nicht mehr und Tschechien sei ein souveräner Staat, dann ist das nicht die gemeinsame europäische Aussenpolitik, die wir meinen.

 

Roger Köppel: Was sollen die Amerikaner tun?

 

Guido Westerwelle: Die Amerikaner sollten den Unilateralismus endlich beenden. Nehmen Sie den Irak-Krieg: Nationale Alleingänge können Kriege gewinnen, aber keinen Frieden schaffen. Bei allen ernstzunehmenden Motiven, die hinter dem Irakfeldzug stecken: Die ganze Operation war nicht zielführend.

 

Roger Köppel: Hat sich das relative Gewicht der USA verringert?

 

Guido Westerwelle: Das Gewicht nicht, aber das Ansehen. Vor allem in der arabischen Welt, aber ausdrücklich nicht nur in der arabischen Welt. Ich bin seit meiner Studentenzeit ein begeisterter Transatlantiker, ich habe amerikanischer Freunde, liebe die amerikanische Kunst, mag die Vielfalt in den Vereinigten Staaten, aber ich habe mich noch nie einer amerikanischen Regierung so fern gefühlt. Das kann nicht nur an mir liegen.

 

Roger Köppel: Umgekehrt gewinnt Deutschland an Bedeutung als Mittelmacht in Europa. Die betonharten Bündnisse des Kalten Kriegs weichen sich auf, eine neue Flexibilität wird möglich. Was müssen in Ihren Augen die aussenpolitischen Prinzipien Deutschlands sein?

 

Guido Westerwelle: Seit Mitte der neunziger Jahre ist Deutschland kein Akteur, sondern ein Reakteur der Aussenpolitik. Zum Teil hervorragend: Glücklicherweise haben wir das Meiste richtig gemacht. Wir haben humanistische Werte exportiert, haben ein hohes Ansehen auch in Problemregionen der Welt. Aber deutsche Interessen haben wir bis heute nicht definiert, auch keine deutschen Interessen im Rahmen der europäischen Politik.

 

Roger Köppel: Deutschland entdeckt sich wieder als Subjekt.

 

Guido Westerwelle: Ja. Diese Phase steht jetzt vor uns.

 

Roger Köppel: Es wird wohl nicht mehr reichen, dass sich Deutschland einfach als moralische Anstalt definiert.

 

Guido Westerwelle: Selbstverständlich sind wir für Frieden, Freiheit und Menschenrechte in der Welt. Darüber hinaus werden wir unsere ökonomischen Interessen definieren müssen. Interessen des Technologieexports. Man muss hinzufügen: Rohstoffinteressen. Es ist falsch, dass die deutsche Aussenpolitik den südamerikanischen Kontinent so sträflich vernachlässigt. Die Welt schliesst sich zusammen. Es entstehen riesige, junge aufstrebende Regionen, auch in Südamerika. Diese jungen Gesellschaften werden Zentren der Welt werden wollen.

 

Roger Köppel: Sie sagen: Die beste Aussenpolitik ist eine hervorragende Innenpolitik, die den Standort so attraktiv macht, dass alle nach Deutschland kommen wollen und nicht jährlich 24000 hoch qualifizierte Deutsche in die Schweiz auswandern.

 

Guido Westerwelle: Insgesamt sind 150000 Deutsche im letzten Jahr ausgewandert. Das ist der absolute Rekord seit dem Zweiten Weltkrieg. Nicht nur Kapital geht verloren, es gehen Wohlstandschancen weg. Man kann lange über Aussenpolitik reden, aber zu Hause beginnt´s. Es führt kein roter Teppich an der Innenpolitik vorbei.

 

Roger Köppel: Russlands Präsident Putin wird derzeit heftig kritisiert. Wie muss sich Deutschland gegenüber den Russen, mit denen man über jahrhundertealte Beziehungen verbunden ist, verhalten?

 

Guido Westerwelle: Fair und entschieden. Fair: Wir müssen die Bedenken der Russen gegenüber den Raketenstationierungen ernst nehmen. Entschieden: Wir sollten die innenpolitische Entwicklung gut beobachten. Über die Mängel bei der Presse- und Versammlungsfreiheit sollten wir nicht schweigen.

 

Roger Köppel: Ist Bismarcks hoch subtiles Bündnisnetz mit einem starken Deutschland inmitten Europas für Sie in irgendeiner Form inspirierend?

 

Guido Westerwelle: Für mich sind die besten Ratgeber immer noch Persönlichkeiten wie Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff, Walter Scheel, Klaus Kinkel. Es gibt von Stefan Zweig das wunderbare Buch „Castellio gegen Calvin“, das ich hoffentlich auch in Zürich zitieren darf. Er schreibt dort: Geschichte ist wie Ebbe und Flut. Niemals ist die Freiheit endgültig erkämpft gegen die immer wiederkehrende Tyrannei der Unfreiheit. Die Unfreiheit kommt meistens gut getarnt. Wir sind eben nicht am Ende der Geschichte, sondern wir sind mittendrin. Das mag sich aus Sicht der neutralen Schweiz etwas pathetisch anhören, weil naturgemäss die Distanz zu den Dingen grösser ist. Wenn Sie aber einen Arbeitsplatz haben, der 30 Meter von der ehemaligen Berliner Mauer entfernt ist, wenn Sie in einer Stadt Politik machen dürfen, die eine Stunde entfernt ist von Polen und vielleicht drei Stunden von Prag: Dann werden Fragen wie die Raketenstationierung geradezu fühlbar.

 

Roger Köppel: Die Schweiz spürt keine Raketen, aber doch den Druck auf unsere Steuersysteme auch aus Deutschland.

 

Guido Westerwelle: Ach, der frühere Finanzminister Eichel hat ebenso wie der jetzige Amtsinhaber darüber geklagt, dass andere Länder ihre Steuervorteile nützen. Der österreichische Finanzminister Grasser zeigte mit seinem neuen Steuersystem, wie attraktiv es für deutsche Unternehmen ist, nach Österreich zu gehen. Es ist zuwenig, wenn dem deutschen Finanzminister zum Steuerwettbewerb nur einfällt: Das ist aber gemein. Er könnte sich auch inspirieren lassen.