D a s   L i b e r a l e   T a g e b u c h

Sammlung Originaldokumente aus „Das Liberale Tagebuch“, http://www.dr-trier.de

 

 

Debatte „Fettleibigkeit“ am 17. Juni 2004
im Deutschen Bundestag

 

Präsident Wolfgang Thierse:

 

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.

 

(Beifall bei der FDP ... )

 

Hans-Michael Goldmann (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht einmal ein Wort vorweg: Es wäre mir viel sympathischer, wenn wir von Ernährungsplattform e.V. reden würden und nicht von Ernährungsbewegung. Man müsste einmal darüber nachdenken, ob ein solcher Begriff in diesem Zusammenhang nicht vermieden werden könnte.

 

(Beifall bei der FDP ... )

 

Geschätzte Frau Ministerin, ich fand es prima, dass Sie eine Regierungserklärung abgegeben haben. Ich bin da etwas anderer Meinung als die Kollegin von der CDU/CSU. Der Sachverhalt betrifft nämlich 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, Junge und Alte. Er betrifft einen riesigen Bereich unserer Wirtschaft, nämlich den Ernährungssektor insgesamt, einen der größten Arbeitgeber. Er betrifft sehr viele Arbeitsplätze. Deswegen ist es natürlich sehr richtig, sich mit den Problemen und den Herausforderungen zu beschäftigen, die sich in diesem Bereich ergeben.

 

(Beifall bei der FDP)

 

Aber, liebe Frau Ministerin - das möchte ich einmal ganz schlicht sagen -, ich bin zutiefst enttäuscht von Ihrer Regierungserklärung. Sie sind den Ansprüchen, die man an eine Regierungserklärung stellt - "erklären" heißt ja: Zusammenhänge darstellen und Wechselwirkungen aufzeigen sowie Tiefgang in eine Rede hineinbringen -, schlicht und ergreifend nicht gerecht geworden. Ihre Ausführungen, die Sie uns hier dargeboten haben, kann man nicht anders als sehr flach bezeichnen.

 

Wenn Sie sich Ihren Redetext - Sie haben ihn uns ja im Vorfeld zur Verfügung gestellt - noch einmal ansehen, dann werden Sie selbst feststellen, dass Sie erst auf Seite 13 Ihrer 14-seitigen Ausführungen einen gewissen Lösungsansatz entwickeln. Das ist erschreckend.

 

Nein, das, was Sie uns hier vorgestellt haben, wird dem, was Sie fordern, nämlich Kernkompetenzen, überhaupt nicht gerecht.

 

(Beifall bei der FDP ... )

 

Wir sind gerne bereit, Ihnen zu helfen. Auch wir möchten das bestehende Problem tiefgründig betrachten. Deswegen wollen wir auch in der Plattform gerne mitwirken. Aber den Weg, den Sie aufzeigen, lehnen wir entschieden ab. Der Weg der Bevormundung, den Sie immer wieder gehen, ist mit den liberalen Gedanken der Eigenverantwortung und des Selbst-Könnens nicht in Einklang zu bringen. Sie haben in Ihren Ausführungen wieder deutlich gemacht, dass Sie sich in dieser Frage auf einem Irrweg befinden.

 

(Beifall bei der FDP ... )

 

Zwangsabgabe, Werbeverbote, Diskriminierung - ich hatte heute Morgen das unendliche Vergnügen, im Fernsehen neben Frau Höfken zu stehen, als sie wieder die deutsche Lebensmittelwirtschaft attackiert hat. Ich finde es unerträglich, wenn hier behauptet wird, junge Menschen würden an dem Genuss bestimmter Produkte krepieren. Ich finde es unerträglich, wenn Sie Ihre Argumente darauf aufbauen, dass ein bedauernswertes dreijähriges Kind an Übergewicht stirbt. Das wird der Sache nicht gerecht. Hier geht es nicht darum, im Hau-drauf-Stil auf bestimmte Dinge hinzuweisen, sondern darum, zu bündeln, zusammenzuführen und Lösungswege zu entwickeln, die es - das will ich ganz deutlich sagen, Frau Künast - in vielfältiger Form schon gibt, aber die von unten kommen müssen. Wir werden diesem Problem im Verordnungsweg, im Gesetzgebungsweg nicht gerecht werden. Da haben Sie einen falschen Ansatz;

 

(Beifall bei der FDP ... )

 

da missbrauchen Sie ein Problem, das es bei Kindern, Erwachsenen und auch bei Senioren gibt, in unverantwortlicher politischer Weise.

 

Ich habe mit Erschrecken Ausführungen Ihrerseits noch einmal nachgelesen. Auch heute haben Sie wieder eine Studie zitiert, in der es heißt, dass die junge Generation die erste sei, die vor ihren Eltern sterbe.

 

Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dümpe-Krüger?

 

Hans-Michael Goldmann (FDP):

 

Ich gestatte gerne eine Zwischenfrage.

 

Präsident Wolfgang Thierse: Bitte schön.

 

Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

 

Herr Kollege, ich frage Sie, ob Ihnen bekannt ist und wie Sie bewerten, dass speziell das von der Ministerin angesprochene Problem der Altersdiabetes bei Kindern - ich rede nicht von der kindlichen Diabetes - ein Phänomen ist, das es noch nie zuvor gegeben hat und das wirklich ganz erschreckende Ausmaße angenommen hat, und ob Sie nicht auch der Ansicht sind, dass zu einer Veränderung und Rückführung in diesem Bereich ein ganzheitlicher Ansatz notwendig ist, wie ihn die Ministerin hier beschrieben hat.

 

Hans-Michael Goldmann (FDP): Geschätzte Kollegin, ich bin sehr entschieden der Auffassung, dass Ihre Ministerin keinen ganzheitlichen Ansatz aufgezeigt hat, sondern einen staatsbezogenen Ansatz. Wenn Sie an den Diskussionen, die wir gerade in letzter Zeit zu dem Thema hatten, an den Veranstaltungen von der Lebensmittelwirtschaft, von Ärzten, von Kindertagesstätten und von Schulen teilgenommen hätten, wenn Sie im Rahmen der Grünen Woche bei den Landfrauen Ihre Unterschrift geleistet hätten - alles Aktionen, die auf mehr Aufklärung in diesem Bereich abzielen und darauf, das Wissen und das Können zu erhöhen -, dann würden Sie mir eine solche Frage nicht stellen. Selbstverständlich müssen wir uns um diese Dinge bemühen. Es gibt auch Studien darüber, die Ihnen bekannt sein müssten.

 

Aber diese Studien haben etwas mehr Substanz als zum Beispiel die Studie, die die Frau Ministerin hier ins Gespräch gebracht hat. Sie zeigt im Grunde genommen einen simplen Mechanismus auf: Die junge Generation sei die erste, die vor ihren Eltern sterbe. Man darf es zwar hier nicht sagen, aber: Das ist doch Schwachsinn! Das wird doch dem Problem überhaupt nicht gerecht!

 

(Beifall bei der FDP ... )

 

Das Problem ist doch nicht, dass die junge Generation vor der älteren stirbt, sondern das Problem ist, dass es in dieser Gesellschaft eine Anzahl von jungen Menschen - eine zu große Anzahl - gibt, die sich aufgrund genetischer Veranlagung, sozialer Kompetenzen - wir haben vorhin die Migrationsfrage angesprochen - und schlicht und ergreifend aufgrund von Bewegungsmangel selbst in die Situation versetzen, dass ihnen keine freiheitliche Teilnahme an unserer Gesellschaft mehr möglich ist. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben. Dieses Problem lässt sich, wie ich schon gesagt habe, nicht von oben nach unten lösen, sondern einzig und allein von unten nach oben. Das weiß eigentlich jeder, der sich damit beschäftigt.

 

(Beifall bei der FDP ... )

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hatte es schon angesprochen: Der Problemkreis ist komplex. Es geht um mehr als um Übergewicht; es geht um Lebensstil und Gesundheit. Ernährung allein und insbesondere, liebe Kollegin Höfken, einzelne Lebensmittel sind nicht für die Entstehung von Übergewicht verantwortlich. Das ist keine Erkenntnis von mir. Das ist auch nicht neu. Das hat Professor Müller schon vor vielen Jahren in einer sehr interessanten Adipositaspräventionsstudie dargestellt, die in Fachkreisen jeder kennt. Das Ergebnis ist simpel: Gewichtsunterschiede von Kindern sind im Wesentlichen auf Unterschiede der körperlichen Aktivität bzw. Inaktivität, auf soziale Aspekte und mögliche genetische Risiken zurückzuführen.

 

Frau Künast, Sie wollen einen neuen Lebensstil und neue Essgewohnheiten. Sie haben immer wieder "Wir wollen, wir wollen" gesagt; aber nicht Sie müssen wollen, sondern die Bürger.

 

(Beifall bei der FDP ...)

 

Sie wollen den Bürgern den Appetit verderben. Sie unterscheiden Lebensmittel in schlecht und gut, in böse und gut.

 

Sie sollten sich einmal mit den Erkenntnissen der Amerikaner in diesem Bereich beschäftigen. Dort gibt es ein hohes Maß an Sorge, dass sich Kinder überhaupt nicht mehr ernähren, weil sie Angst davor haben, sich mit den falschen Lebensmitteln zu ernähren. Ich glaube, es geht darum, das rechte Maß zu finden. Jeder, der mit Kindern zu tun hat - hiervon gibt es unter uns ja einige -, weiß, dass Verbote - zum Beispiel: Iss keine Schokolade! - überhaupt nicht helfen. Es geht vielmehr darum, aufzuzeigen, was passiert, wenn das Kind zu viel Schokolade isst. Verteufeln hilft in diesem Bereich überhaupt nicht.

 

Ich hatte es schon angesprochen: In den USA zeichnen sich die Ergebnisse der Indoktrination in Bezug auf das Kalorienzählen - das, was Sie machen, ist Indoktrination - längst ab.

 

Amerikanische Kinder fürchten sich davor zu essen. Das können Sie doch nicht wollen.

 

Das, was Sie ausgeführt haben, war hochgradig lächerlich, geschätzte Kollegin.

 

(Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP])

 

Sie erklären, dicke Kinder hätten schlechte Startchancen. Diese Aussage ist in Ordnung; damit sind wir einverstanden. Aber sorgen Sie dafür, dass sich die Startchancen der Menschen verbessern! Stigmatisieren Sie diese Menschen nicht, sondern nehmen Sie sie in die Gesellschaft hinein,

 

Beifall bei der FDP ... )

 

Sie sagen, dass sich Kinder falsch ernähren. Wir wollen den Kindern sowie den Erzieherinnen und Erziehern vermitteln, wie man sich gesund ernährt. Wir Liberale wollen also einen ganz anderen politischen Weg beschreiten.

 

Das hat auch nichts damit zu tun, dass wir uns aus der staatlichen Verantwortung zurückziehen wollen, Frau Künast. Wenn Sie jetzt sagen, das sei Quatsch, zeigt dies wieder, dass Sie sich mit diesem Thema nicht beschäftigt haben, sondern dieses Thema populistisch nutzen. Sie hüpfen im Bereich Ernährung, Verbraucherschutz und Landwirtschaft von einem Thema zum anderen.

 

(Beifall bei Abgeordneten der FDP ... )

 

Sie hinterlassen an vielen Stellen Schaden. Sie haben bei der Diskussion um BSE einen riesigen Schaden hinterlassen. Sie haben die Gesamtproblematik dieses Themas nie erkannt. Sie haben die Folgewirkungen dieses Themas überhaupt nicht richtig zur Kenntnis genommen. Sie wollen seit Beginn Ihrer politischen Arbeit in diesem Hause beim Thema Verbraucherschutz den Verbrauchern etwas vorgeben, was der Verbraucher überhaupt nicht nachvollzieht.

 

Sie behaupten, wir wollten kein Verbraucherinformationsgesetz.

 

Das ist völliger Quatsch. Das stimmt schlicht und ergreifend nicht. Wir wollen eine Regelung, die den Verbraucher in die Lage versetzt, selbst Erkenntnis zu gewinnen. Wir wollen keinen Angriff auf unternehmerisches Tun, der die Marktposition der Unternehmen gefährdet und wieder nationale Alleingänge im Hinblick auf europäische Regelungen bedeutet. Genau das wollen wir nicht.

 

(Beifall bei der FDP ... )

 

Wir wollen das Informationsbedürfnis befriedigen. Von einseitigen Schuldzuweisungen sind wir Gott sei Dank meilenweit entfernt. Wir wollen "Ernährungskönnen", Ernährungsbewusstsein. Wir sprechen uns klipp und klar zum Beispiel gegen die Schuldzuweisung aus, dass die Lebensmittelwirtschaft verantwortlich dafür ist - da machen Sie es sich viel zu leicht -, dass es alkoholkranke Menschen gibt. Sie können doch nicht ernsthaft sagen, dass Alkoholismus etwas damit zu tun hat, dass jemand Wein herstellt.

 

Sie können doch nicht ernsthaft sagen, dass Produkte wie Chips und Schokolade schon deshalb schlimm sind, weil der eine oder andere diese Produkte aus Unkenntnis nicht sachgerecht und ernährungsbewusst verwendet.

 

Frau Künast, wir bieten Ihnen sehr nachdrücklich an: Lassen Sie uns gemeinsam Wege gehen, die darauf abzielen, den Verbraucher zu informieren und zu konditionieren, den jungen Menschen das Können an die Hand zu geben, sich bewusst zu ernähren und sich mehr zu bewegen, und die sozialen Defizite abzubauen! Seien Sie bitte ein Stück vernünftig und rücken Sie davon ab, von oben bestimmen zu wollen, was unten passiert! Dieser Weg ist zum Scheitern verurteilt.

 

Herzlichen Dank.

 

(Beifall bei der FDP ... )